Marlies Kalbhenn

"Was für ein Glück"

Eine Kindheit zwischen Trümmern und Wirtschaftswunder

 

Taschenbuch, 128 Seiten

ISBN 978-3-946185-19-2

 

Geschichten einer Kindheit in den 1950er Jahren, aufgeschrieben in Einfacher Sprache.

 

Rezensionen/Rückmeldungen:

  • ekz Bibliotheksservice
  • Ich bin total begeistert und nun tatsächlich davon überzeugt, dass es "einfach" auch geht, ohne flach, gekürzt oder irgendwie eingeschränkt zu klingen. Kurz und gut: Danke für das Buch! Eva Samlow, Buchhändlerin i.R., Crookwell / Australien, Juni 2019
  • Die Kindheitserinnerungen in Einfacher Sprache sind ein Gewinn für alle, die auf diese Weise auch das „Seligmachende“ des Lesens erfahren können! Danke! 

    Erika Kastner, Buchhändlerin i.R., Dinkelscherben, Juli 2019

Leseprobe

 

1 Geburtstag
Mein 10. Geburtstag fiel auf einen Sonntag.
Mittags gab es mein liebstes Sonntagsessen:
Gulasch mit Kartoffeln und Rotkohl.
Und hinterher roten und grünen Wackelpudding. Mit Vanillesoße!
Am Nachmittag kam meine Freundin
und Klassenkameradin Renate.
Sie brachte ihre kleine Schwester Elke mit.
Außerdem kamen noch Karin und Dora.
Auch sie gingen in meine Klasse.
Karin und Dora wollten nach den Osterferien
mit mir zusammen auf das Gymnasium gehen.
Leider würde Renate nicht mitkommen.
Sie wollte oder sollte in der Volksschule bleiben.
Mama hatte eine Quarktorte gebacken:
halb mit, halb ohne Rosinen.
Meine 5-jährige Schwester Elisabeth und mein 3-jähriger Bruder Andreas mochten keine Rosinen im Kuchen. Eigentlich mochten sie überhaupt keine Rosinen. Ich hatte mit Mamas Hilfe einen „Kalten Hund“ gemacht:
einen Kuchen aus Keksen und Schokolade.
Papa hatte eine große Kanne Kakao gekocht.
Nachdem wir uns satt gegessen hatten, gingen wir in unseren großen Garten. Dort spielten wir Packen, Verstecken, Eierlaufen, Topfschlagen und Sackhüpfen.
Ich hatte zum ersten Mal in diesem Jahr
Kniestrümpfe an. Neue weiße Kniestrümpfe.
„Es ist noch viel zu kalt für Kniestrümpfe“,
hatte Mama gesagt.
Aber ich hatte sie daran erinnert:
dass seit einer Woche Frühling war,
dass im Garten die Gänseblümchen blühten,
dass heute Sonntag war und dass ich Geburtstag hatte. Mama hatte gelacht.
Und dann hatte sie gesagt:
„Mach, was du willst, Marie.“
Ich fror an den Oberschenkeln. Aber das machte nichts. Frühestens im Oktober würde ich das Leibchen und die Wollstrümpfe wieder anziehen.
Abends um 7 mussten meine Gäste nach Hause.
Vorher aßen wir noch Kartoffelsalat und Würstchen. Außerdem gab es gekochte Eier.
Sie sahen wie Fliegenpilze aus. Denn Mama hatte den Eiern Tomaten-Käppchen aufgesetzt. Und jedes Käppchen hatte sie mit Mayonnaise-Tupfern verziert.
Papa brachte Elisabeth und Andreas ins Bett.
Oma Käthe, die bei uns zu Besuch war, half Mama beim Aufräumen und Spülen.
Ich hatte endlich Zeit, meine Geschenke anzuschauen: die Blockflöte, die beiden Bücher, die neue Schultasche, die Federmappe und die Schokoladentafeln.
Weil ich Geburtstag hatte, durfte ich länger aufbleiben. Papa und Mama erzählten, wie sie sich im Frühling 1944 kennengelernt und sofort ineinander verliebt hatten. Das hatten sie mir schon oft erzählt. Aber ich konnte es immer wieder hören.
Im Sommer 1944 war Krieg. Papa war Soldat.Bevor er Mama kennenlernte, war er 2 Jahre
in Russland gewesen.
Danach hatte er ein halbes Jahr in einem Lazarett gelegen, einem Krankenhaus für Soldaten. Denn er war in Russland schwer verwundet worden.
Oma Käthe sagte: „Das waren Zeiten! Was haben wir alles mitgemacht!“
Nach der Zeit im Lazarett besuchte Papa eine Schule für Soldaten, die Offiziere werden wollten. Die lag in der Nähe von Mamas Wohnort.
Nachdem Mama und Papa geheiratet hatten, sollte Papa noch einmal zurück in den Krieg.Zurück nach Russland. Mama hatte große Angst um ihn. Oma Käthe auch.
Aber Papa hatte Glück. Er kam nicht nach Russland, sondern nach Süddeutschland.
„Gott sei Dank“, sagte Mama jetzt.
„Gott sei Dank“, sagte auch Oma Käthe.
In ihren Augen blitzte es. Sie hatte am Wasser gebaut. Am Wasser gebaut – so nannte Papa das, wenn ein Mensch schnell weinte oder zu Tränen gerührt war.
In Süddeutschland hatte Papa Brücken sprengen müssen, um die amerikanischen Soldaten aufzuhalten. Aber abends hatte er frei. Da hat er Briefe an Mama geschrieben.
„Jeden Abend einen!“, sagte er.
„Ich habe noch ein Geschenk für dich“, sagte Mama. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer.
Als sie zurückkam, hatte sie ein Kästchen in der Hand. „Da sind die Briefe drin, die Papa kurz vor deiner Geburt an mich geschrieben hat.“
Mama nahm einige Briefe aus dem Kästchen.
Dann las sie Stellen vor, in denen von mir die Rede war:
 „Und das Schönste ist doch, dass wir ein
 Kind bekommen werden. Bald ist das kleine
 Wunder da. Ob es ein Junge wird? Oder ein
 Mädchen? Was meinst du, Lotti? Ich freue
 mich über das eine genauso wie über
 das andere.“
Jetzt blitzte es auch in Papas Augen. Papa, mein großer starker Vater, hatte nämlich auch am Wasser gebaut.
Einige Tage nach meiner Geburt hatte er plötzlich an Mamas Bett gestanden.
„Diesen Augenblick werde ich nie vergessen“, sagte sie leise. Papa musste aber noch einmal nach Süddeutschland zurück.
„Das war furchtbar!“, sagte Mama.
„Als Papa weg war, habe ich mein Kissen nassgeheult. Ich habe einen richtigen Weinkrampf bekommen.“
8 Wochen später war Papa wieder da.
Für immer. Denn der Krieg war aus.
„Ich hebe die Briefe für dich auf, Marie“, sagte Mama und legte sie in das Kästchen zurück.