Jürgen Heimlich

"Mathilde und ein Vogel namens Kafka"

 

Taschenbuch, 91 Seiten

ISBN: 978-3-946185-18-5

 

Eine magische Geschichte von Freundschaft,
Liebe, Leben und Tod.

 

Mathilde und ein Vogel namens Kafka - Leseprobe

 

Lieblingstiere
„Und was haben Sie gezeichnet, Erika?“
Erika rollt mit den Augen.
Sie zeigt auf das grüne Ding.
„Einen Frosch, was sonst, Frau Hampel.“ Frau Hampel ist Animateurin und bringt die Senioren zum Zeichnen.
Sie geht weiter zu Gerlinde. „Ach, ich sehe schon, Sie haben ein Stofftier gezeichnet.“

Gerlinde stampft mit dem Fuß auf. „Nein, nein, nein“, schreit sie.
„Ist ja gut, alles in Ordnung.“ Frau Hampel streicht der alten Frau sanft über die Wange. „Alles gut.“
Gerlinde beruhigt sich. Sie legt den Zeichenstift beiseite.

Hans stellt sich kerzengerade hin.
Er hält die Zeichnung vor seinen dicken Bauch. Nun sollen alle raten, was sie sehen.
Rosalia rümpft mit der Nase. „Jedes Mal die gleiche Leier. Das ist ein Zebra im Sommer.“
„Lass uns mit dem Quatsch in Ruhe“, sagt Erika. „Als einziger Mann willst du uns immer imponieren.

Dabei kannst du gar nicht zeichnen.“
Frau Hampel schaut auf die Uhr.
„Für heute ist unsere Zeichenstunde vorbei. Wir sehen uns wieder nächste Woche,
meine Damen, mein Herr.“
Rosalia lacht laut auf. „Und wir werden uns alle bester Gesundheit erfreuen.“

Die Senioren verlassen alle den Raum.
Bis auf Mathilde.
„Ich würde mich so sehr freuen, wenn Sie auch einmal etwas zeichnen“, sagt Frau Hampel.
„Sie sind immer ganz still. Sie haben früher doch selber Zeichenunterricht gegeben.

Sie sind eine so wunderbare Künstlerin!“
Mathilde steht langsam von ihrem Stuhl auf. Aber im nächsten Moment setzt sie sich wieder.

Sie drückt Frau Hampel sachte auf die Schulter.„Ich soll mich zu Ihnen setzen? Das mache ich gerne. Ich bin gerne für Sie da.“


Mathilde nimmt einen der Zeichenstifte in die Hand. Sie macht einen kurzen Strich nach dem anderen.

Die Konturen werden schließlich sichtbar. Dann nimmt sie andere Zeichenstifte und malt die Augen aus.

Sie macht die Krallen in orange. Und das Gefieder malt sie grau und schwarz.

„Wie schön, dass Sie wieder malen, Mathilde! Das freut mich so. Ihre Freundinnen werden sich auch sehr darüber freuen!“
Mathilde zeigt auf die Nebelkrähe, die wie lebendig wirkt. „Kafka“, sagt sie.
Frau Hampel möchte die Zeichnung in den Schrank legen. Aber Mathilde hält sie fest.„Kafka“, sagt sie wieder. Sie drückt die Zeichnung an ihre Brust. Dann geht sie mit langsamen Schritten aus dem Raum.
Frau Hampel sperrt hinter ihr die Tür zu.


Mathilde fährt mit dem Aufzug in den 5. Stock. Die Zeichnung hält sie so fest, wie sie kann.
Sie sperrt ihr Zimmer auf und legt die Zeichnung auf einen kleinen Tisch.
Sie setzt sich auf einen Stuhl und nimmt einen Bleistift zur Hand.
Sie schreibt unter die Zeichnung jeden Buchstaben sehr sorgfältig.


K A F K A


Mathilde kommen die Tränen. Sie hat ein halbes Jahr nicht geweint. Sie benetzt die Zeichnung mit ihren Tränen und sagt immer wieder: „Kafka, Kafka, Kafka.“
Dann nimmt sie die Zeichnung und steht von dem Stuhl auf. Sie legt die Zeichnung auf das Nachtkästchen. Und dann sagt sie mit fester Stimme: „Schlaf gut, Kafka. Ich muss stark sein. Ich komme nach dem Essen wieder. Mache dir keine Sorgen um mich!“